rallentando vom 22.12.21
Weihnachtsausgabe

I

Stellen Sie sich eine Flaschenpost vor, die ein Kind hier am Zürisee aufgibt und die dann die Limmat hinab schwimmt, dann in die Aare gelangt, schliesslich in den Rhein. Sie schwimmt an Basel vorbei und mündet in Rotterdam in die Nordsee.
Unsere Flasche gerät schliesslich von der Nordsee in den Atlantik, umrundet ganz im Süden das Kap der guten Hoffnung, so dass sie in den Indischen Ozean gelangt. Schliesslich findet sie jemand in Mumbai, der Millionenmetropole an der Westküste Indiens, am Strand. Für die gesamte Strecke hat sie etwa drei Jahre gebraucht.
Wird der Empfänger verstehen, was das Kind drei Jahre zuvor auf einem Zettel notiert hatte?
Er kann sich den Text mit einer Übersetzungs-App erschliessen: Das Kind hatte auf dem Blatt in der Flasche seine Sorgen festgehalten, hat von dem Streit der Eltern berichtet, der eigentlich nie der gleiche Streit ist, der aber doch immer da ist und nie endet.

II

Der Inder liest davon und versteht es, aber er versteht es doch nicht. Denn seine Sprache ist eine andere. Und seine Welt ist eine andere. Zwar weiss er natürlich auch, was ein Streit ist. Aber er kann sich das in seiner Familie gar nicht vorstellen. Unstimmigkeiten kommen bei ihm eher in der Arbeitswelt vor. Die Stimmung in seinem Unternehmen ist wegen der Auftragslage ständig angespannt und gereizt.

III

Im Prinzip sind auch die biblischen Schriften eine Flaschenpost, abgesendet nicht vor drei, sondern vor 2000 Jahren.
Die Post ist auch nicht über die Weltmeere zu uns gelangt, sondern auf verschlungenen Pfaden der Überlieferung, die so verwickelt sind, dass man heute nicht mehr alles genau nachzeichnen kann.
Es liegen also nicht nur Weltmeere zwischen den Sendern des Alten und Neuen Testaments und uns als Empfängern, sondern es sind sogar weltgeschichtliche Räume, die uns von dem, was die Autoren in ihrer antiken Welt damals niedergeschrieben haben, trennen.
Können wir heute noch begreifen, was damals gemeint war, als jemand diese Zeilen niedergeschrieben hat, die sich im 1. Kapitel des Lukasevangeliums finden?

26 (I)m sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa, die heißt Nazareth, 27 zu einer Jungfrau, die vertraut
war einem Mann mit Namen Josef vom Hause David; und die Jungfrau hieß Maria. 28 Und der Engel kam zu ihr hinein und sprach: Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit dir! 29 Sie aber erschrak über die Rede und dachte: Welch ein Gruß ist das? 30 Und der Engel sprach zu ihr: Fürchte dich nicht, Maria! Du hast Gnade bei Gott gefunden. 31 Siehe, du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben. 32 … 34 Da sprach Maria zu dem Engel: Wie soll das zugehen, da ich doch von keinem Manne weiß? 35 Der Engel antwortete und sprach zu ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das geboren wird, Gottes Sohn genannt werden.

Können wir das wirklich verstehen? Ein Text, in dem die wundersame Geburt von Gottes Sohn angekündigt wird? Ein Text, in dem ein Engel erscheit und diese übernatürlichen Dinge ankündigen?

IV

Ich könnte mir vorstellen, dass der Schlüssel zur Beantwortung unserer Frage in einem anderen Test liegt, in dem auch schon die Geburt eines Erlösers angekündigt worden ist. Dieser Text, den ich meine, steht im Jesajabuch im 11. Kapitel. Auch daraus möchte ich Ihnen gern ein paar Zeilen vorlesen.

1 Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. 2 Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn... 5 Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften.
6 Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen… 7 Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind…

V

Unser Text malt ein idyllisches Bild des Friedens und der Gerechtigkeit. Natürlich hat es ein solches Reich des Friedens nie gegeben. Weder im antiken Israel noch sonst irgendwo. Der Mensch scheint dazu nicht geschaffen zu sein. Und weil ein solches Friedensreich so realitätsfremd ist, wirken die Bilder von den Tieren, die da so friedlich beieinander wohnen, auch ein wenig kitschig.

VI

Aber neben allem Kitsch ist doch etwas Wahres in den Bildern gespeichert: Zunächst einmal dies: Der Mensch ist im Kern tatsächlich ein Tier, ein Raubtier sogar. Er ist auch immer wieder so beschrieben worden, im Alten Testament, beim englischen Aufklärungsphilosophen Thomas Hobbes, bei Friedrich Nietzsche und dann immer wieder: Als ein Lebewesen, das im ungezähmten, im unkultivierten Zustand dazu neigt, den anderen aufzufressen. Homo hominem lupus est. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, einer, der andere aggressiv angehen wird, der sich des anderen Hab und Guts bemächtigen will, der über den anderen herrschen will, der sich selbst durchsetzen will und dazu seine Macht einsetzt. Das ist das Raubtier, der Bär, der Löwe im Menschen. Und wir sollten uns nicht täuschen, das alles steckt auch in uns, es ist bloss durch den Firnis unserer Kultur ein wenig zugedeckt.
Und natürlich gibt es dann auch immer solche, die Opfer von denjenigen sind, die stärker sind als die anderen: Für sie steht das Bild der Kälber und der Kühe.
Mal ist man Kalb, mal ist man Raubtier. In der Schule ist einer vielleicht das Raubtier, einer der andere drangsaliert, der sie wegen seiner Stärke herumschubsen kann, der andere für sich einzuspannen weiss. Später dann kann dieselbe Person auch in die Rolle des schutzbedürftigen Kalbes geraten. Vielleicht hat er durch einen Unfall seine Ausbildung abbrechen müssen und wird nun auf einer Arbeitsstelle, auf der er einen ungelernten Aushilfsjob machen muss, gnadenlos ausgenutzt.

VII

Kommen wir noch einmal auf die kitschige Seite des Bildes von den Kälbern und den Löwen zurück. Wenn diese Art von Frieden, in dem Kühe und Löwen beieinander grasen, gelingen sollte, dann müsste sich der Mensch wandeln. Und er versucht eine solche Selbstwandlung ja seit geraumen Zeiten auch schon. Wir haben eine Jahrtausende währende Geschichte der Selbstzähmung hinter uns. Und wir waren dabei eigentlich auch recht erfolgreich. Zumindest fallen wir nicht mehr unmittelbar übereinander her, wie es einst die unkultivierten Sippen und Stämme noch getan haben zu Zeiten, in denen man zum Beispiel noch Blutrache übte. Gottlob liegen diese Zeiten weit hinter uns.

VIII

Und doch will es uns einfach nicht gelingen, das Raubtier in uns ganz still zu stellen. Davon zeugen auch die Familien-Sreitigkeiten, in die unser 12jährige Bub verwickelt ist, der seine Sorgen niederschreibt und mit einer Flaschenpost absendet.
Davon zeugen auch die Sorgen, die der Empfänger dieser Flaschenpost in Indien bei der Arbeit hat. Insofern können die beiden sich wohl doch verstehen, und zwar weil in dem Brief etwas allgemein Menschliches angesprochen ist. Etwas das nie aufhören wird so lange der Mensch Mensch ist: nämlich, dass das Raubtierhafte in uns immer wieder durchbricht.

 

IX

Wenn es aufhören sollte, dann müsste das Wesen des Menschen sich ändern. Es müsste uns gelingen, das Raubtier in uns nicht nur dann und wann oder für eine bestimmte Zeitspanne zu zähmen.
Sondern es müsste dann gelingen, dass eine andere Fähigkeit in uns, die Liebe zum Nächsten nämlich, immer - und das meint wirklich: zu jedem Zeitpunkt - unser Dasein dominiert.
Gibt es so etwas? Natürlich nicht. Es wäre geradezu ein Wunder, wenn das jemandem von uns gelingen würde.

X

Die biblischen Schriften sind wie eine Flaschenpost, abgesendet vor 2000 und mehr Jahren. Es liegen Äonen zwischen den Schriftstellern und uns. Können wir verstehen, was damals niedergeschrieben worden ist? Können wir verstehen, was man damals meinte, wenn man schrieb, es werde an Weihnachten der Sohn Gottes geboren von einer Jungfrau?
Ein Mensch wurde da also geboren, der wundersam zur Welt kam. Unter wundersamen Umständen. Und auch mit einem wundersamen Wesen.
Es ist dieser Mensch, den wir alle suchen. Der Mensch, dem es immer, zu jedem Zeitpunkt seines Daseins gelingt, das Raubtier in sich zu bändigen. Ein Mensch, dem es immer gelingt, dem anderen in Liebe zu begegnen, sogar seinen Feinden.
Es ist in uns allen eine Sehnsucht nach diesem neuen Menschen da, einem Menschen, den es unter natürlichen Bedingungen gar nicht gibt und wohl nicht geben kann. Wenn es ihn geben soll oder wenn es ihn einmal gegeben haben sollte, dann nur durch ein Wunder.

XI

Die Menschheit sehnt sich nach einem solchen Wunder und nach einem solchen Menschen. Sie sehnt sich nach einem Menschen, wie Jesus Christus es einer war.
Ja, wir können das Neue Testament und seine wunder-volle Geschichte rund um die Geburt Jesu doch verstehen. Denn auch die Sehnsucht nach einem solchen Menschen ist allgemein menschlich. Sie wird nicht aufhören, solange es Menschen gibt.
Und vielleicht, vielleicht wiederholt sich das Wunder ja hier und da noch einmal - mitten unter uns, wenn sich Liebe ereignet. Für einen Moment bloss, an dem wir es nicht einmal erwartet hätten. Oder vielleicht auch für einen ganzen Abschnitt in unserem Leben. Ist ein solches Wunder wirklich unmöglich? Warum sollte es das sein?

Amen