rallentando vom 23. Juni 2021
Alexander Heit

Thema: Freundschaft

Dass Freundschaften für uns von besonderer Bedeutung sind, ist wohl unbestritten. Das Konzept der Freundschaft gibt es allerdings so, wie wir es heute kennen, noch gar nicht so lange.
Wie es dazu kam, dass Freunde für uns heute das Beste sind, was es gibt auf der Welt, soll heute unser Thema sein.
Seien Sie herzlich willkommen zu rallentando vom 23. Juni 2021. Bleiben Sie dran!

I

Unsere Zivilisation hat in den letzten Jahrhunderten nach der Aufklärung ja mehrere Entwicklungsschübe durchgemacht, die zu einer zuvor nie dagewesenen Befreiung des Individuums geführt haben.
Vielleicht kann man den Vorgang, den ich meine, so am Besten beschreiben: Die Einzelne und der Einzelne sind aus den klassischen Bindungen, in die sie im Mittelalter noch eingewoben waren, herausgelöst worden.
Ich meine zunächst ganz einfach Strukturen, die den einzelnen an eine Sozial- oder Bildungsschicht gebunden haben. Ein Bauer war bis in das 17. oder 18. Jahrhundert hinein ein Bauer, seine Söhne auch. Und seine Töchter heirateten selbstverständlich ebenfalls Bauern. Ein Auf- oder Abstieg waren undenkbar. Selbst ein Seitenblick in derselben Sozialklasse war nur schwer zu realisieren.
Wie fundamental der Wandel ist, durch den unsere Gesellschaft seither gegangen ist, wird jedem klar, wenn er auf sein eigenes Leben schaut. Wir sind, zumindest das Ideal will es so, weder durch unsere Herkunft, noch durch irgendwelche Rollenvorgaben oder soziale Zwänge gebunden.
Unser ganzes Bildungssystem zielt zum Beispiel darauf, die Durchlässigkeit von Grenzen, die es in diesen Bereichen vor wenigen hundert Jahren noch gab, zu erhöhen. Wunderbar!

II

Aber natürlich hat auch diese Entwicklung eine Kehrseite oder stellt uns zumindest vor einige Probleme. Denn ein Mensch, der nicht mehr in seiner Sippe, in seinem Berufsstand, in seiner Schicht aufgehoben ist, ist nun tendenziell bindungslos und von allen Fixpunkten abgelöst. Wir fliegen gewissermassen frei, aber eben auch bindungslos durch den Raum.

III

Darauf hat die Gesellschaft in unterschiedlicher Weise reagiert. Und eine dieser Reaktionen war, dass wir in den letzten zwei Jahrhunderten das Prinzip der Freundschaft geradezu erfunden haben.
Ein mittelalterlicher Mensch hätte die Bedeutung der Freundschaft, die wir ihr heute zumessen, niemals verstanden. Er war ja schon gebunden an andere Menschen durch seinen sozialen Stand und durch die Umgebung, in die er hineingeboren wurde. Freunde waren gar nicht nötig. Es gab sie in der heutigen Form deshalb auch gar nicht - oder nur sehr selten.
Heute sind uns Freunde diejenigen, denen wir vertrauen, deren Gunst wir uns nicht erarbeiten müssen. Sondern wir setzen ihre Gunst voraus. Wir gehen davon aus, dass sie uns grundsätzlich gewogen sind, wie wir es ihnen auch sind. Darin unterscheidet sich die Freundschaft zum Beispiel von der Geschäftsbeziehung. In ihr muss Gunst erarbeitet, ja oft auch erkauft werden.

 

IV

Nun meine ich, dass wir in den letzten zweihundert oder dreihundert Jahren mit unserer Idee von Freundschaft einem Ideal sehr nahe gekommen sind, das im Neuen Testament noch unter dem Begriff der Liebe gefasst worden ist. Auch dort geht es ja um die Beschreibung von Beziehungen, in denen man einander zugeneigt und günstig ist - und zwar ohne dass die Gunst erkauft wäre.
Ja, Freundschaften sind tatsächlich durch einen Geist getragen, den das Neues Testament noch Nächstenliebe nannte. In der antiken Welt war das noch ein revolutionärer Gedanke. Etwas, das völlig quer in der Landschaft stand und das deshalb auf die Leute gewiss ein wenig befremdlich und faszinierend zugleich wirkte.
Heute wissen wir, was Nächstenliebe ist oder sein könnte, wenn wir auf unsere Freundschaften schauen. Und vielleicht sind wir mit der Erfindung der Freundschaft sogar dem Reich Gottes einen Schritt näher gekommen.

Amen