rallentando vom 26. Mai 2021

Leibniz, Bach und wir

Seien Sie herzlich willkommen zum rallentando vom 16. Mai 2021. Heute geht es um Johann Sebastian Bach und um Gottfried Wilhelm Leibniz, zwei Genies aus der Zeit des ausgehenden Barocks und der gerade erwachenden Aufklärung.
Gern will ich Ihnen in den kommenden fünf Minuten einen Charakterzug dieser beiden bemerkenswerten Köpfe vorstellen, an dem sich - so meine ich - erstaunlicherweise auch viel über unsere Zeit ablesen lässt.

Bleiben Sie dran…

INTRO

I

Gottfried Wilhelm Leibniz ist 1646 zur Welt gekommen. Heute schauen wir voller Bewunderung auf sein Leben zurück und raunen dann häufig das Prädikat, er sei der letzte Universalgelehrte gewesen.
In gewisser Weise stimmt das wohl auch. Auf vielen Gebieten gilt er bis in die Gegenwart als ein wegweisender Denker: in der Philosophie ist das so, in der Mathematik, er hat auch den Rechtswissenschaften Impulse gegeben, er war zugleich Historiker und Politikberater,
Kurz: Leibniz ist ein Charakter, der versucht, auf vielen Gebieten alles zu begreifen. Und es gelingt ihm auch, er hat einen Blick nicht nur für eine Wissenschaft, sondern für mehrere gleichzeitig. Man könnte fast meinen, dass er mit seinem Geist die ganze Welt durchdringen will.

II

Johann Sebastian Bach ist 1685 in Eisenach geboren worden und war ein ebenso genialer Geist wie Leibniz. Zwar macht sich das bei ihm auf nur einem Gebiet bemerkbar: nämlich auf dem Feld der Musik. Aber hier setzt Bach Wegmarken und Masststäbe, die bis heute nachwirken. Kein Musiker der Weltgeschichte ist so wirkmächtig gewesen wie Bach.

Dass Bachs Genialität sich ausschliesslich im musikalischen Bereich zeigt, unterscheidet ihn zunächst von Leibniz, der sich gerade nicht auf ein einziges Feld beschränkt hatte.
Man soll sich allerdings nicht täuschen. Auch Bach hatte ständig die Welt als Ganze im Blick. Denn er hatte den Anspruch, ein Gesetz, das die Welt als Ganze zusammenhält, in seiner Musik abzubilden. Gewissermassen verdichtet sich in seiner Musik der Kosmos als Ganzer.

III

Nun glaube ich, dass wir Heutige uns in Hinsicht auf dieses Bewusstsein für das Ganze der Welt maximal von den beiden unterscheiden. Wir leben in einer derart spezialisierten Welt, dass die Universalität der Welt uns schlicht aus dem Blick geraten ist.
Das gilt schon für die Schüler. Ab einer gewissen Stufe spezialisieren sie ihre Ausbildung soweit, dass bestimmte Fächer abgewählt, andere intensiviert werden.
Wer dann einen Beruf ergreift oder eine Hochschule besucht, wird das umso stärker so erleben. Man schaut kaum noch über den Tellerrand des eigenen Fachs hinaus. Man kann es nicht, weil die Dinge im eigenen Fach schon kompliziert genug sind.
Man muss es in der modernen und arbeitsteiligen Welt auch nicht. Denn wir können uns darauf verlassen, dass genau das, was wir selbst nicht beherrschen, durch andere bereitgestellt wird, die sich wiederum auf ihrem Feld spezialisiert haben.

IV

Universalgelehrte gibt es heute nicht mehr und kann es nicht mehr geben. Und Musiker, die das Weltgesetz hörbar machen wollen, gibt es auch nicht mehr.

Nun glaube ich, dass es allerdings nötig ist, genau eine solche Ausweitung des Blicks auf das Ganze zu suchen, wenn man begreifen will, was die Bibel meint, wenn sie von der Welt als Schöpfung spricht und von Gott als Schöpfer.
Denn das ist doch ganz deutlich an den biblischen Schriften ablesbar: Dass die Welt als Schöpfung ein System ist, ein Ganzes, in dem ein Teil zum anderen gehört, in dem die Geschichte auch als Ganze einen sinnvollen Prozess abgibt.

V

Der moderne Mensch hat es wegen seiner Spezialisierungen und wegen seines Tunnelblicks vielleicht ein wenig schwerer, zu diesem Gedanken einen Zugang zu finden als dies bei Leibniz und Bach noch der Fall war.
Aber unmöglich ist es nicht. Es gibt ja Momente, in denen einem selbst genau diese Sicht auf die Welt aufgeht:

Zum Beispiel dann, wenn man in den Bergen plötzlich wie angerührt von der Schönheit der Gipfelwelt über die Gipfel hinausdenkt und eine Ahnung von der Grösse und der Ordnung der gesamten Welt bekommt.

Oder dann zum Beispiel, wenn bei einem Stück Musik das Gemüt über Raum und Zeit hinausgehoben wird und man sich dann aufgehoben fühlt in einer Ordnung, die das All der Dinge birgt.

VI

Vielleicht geht es Ihnen auch so, dass Sie auf diese Weise etwas von der Welt als Schöpfung zu spüren bekommen und damit natürlich auch von Gott dem Schöpfer.

Natürlich muss es zur Abrundung heute ein Stück Musik von Bach geben. Christian Meldau spielt auf dem Flügel das Präludium und die Fuge in c-moll aus dem zweiten Band des Wohltemperierten Klaviers.