rallentando vom 28.04.2021
Antidot

Gibt es ein Gegengift gegen all die Schwermut, die einen überkommt, wenn man morgens die Zeitung aufschlägt? Etwas, das uns erleichtert von den Zumutungen, die da zu lesen sind? Erleichtert von der bleiernen Müdigkeit, die uns überfällt, weil die versprochenen Impfdosen auf sich warten lassen, weil der Rahmenvertrag mit der EU weder richtig vorwärts kommt noch richtig aufgegeben wird, weil in Russland und in China Oppositionelle systematisch aus dem Weg geräumt werden oder weil nun sogar die Schweizer Fussballclubs nicht mehr mit guter Unterhaltung, sondern mit Corona-bedingter Finanznot Schlagzeilen machen.
Wer oder was bringt Heiterkeit ins Leben? Um diese Frage soll es heute gehen.

Jane the Virgin ist eine amerikanische Telenovela, die seit ein paar Jahren erfolgreich auf Netflix läuft. Jane lebt in Florida, hat südamerikanische Wurzeln, hat von ihrer Grossmutter gelernt, dass Telenovelas die beste Unterhaltung bieten und dass es sich lohnt, bis zur Hochzeit züchtig zu leben. Dann wird sie selbst in eine Geschichte verstrickt, die einer Telenovela würdig ist. Sie wird ungewollt schwanger, weil es bei ihrem Frauenarzt bei einer künstlichen Befruchtung zu einer Verwechslung kommt. Die Jungfrau trägt ein Kind aus. Natürlich ist das eine Anspielung auf die neutestamentliche Maria, die als Jungfrau das Jesuskind austrägt.
Jane the Virgin wird sodann über insgesamt 100 Netflix-Folgen, die allesamt 43 Minuten dauern, in eine Geschichte verwickelt, der man sich offenbar kaum entziehen kann, wie ich von Leuten weiss, die die Serie vollständig durchgeschaut haben.
Die Geschichte, so sagen sie, ist herzerwärmend, lustig, voller Spannung, voller Überraschungen auch. Beziehungsverhältnisse nehmen ungeahnte Wendungen, und natürlich sind die einzelnen Folgen so aufgebaut, dass man sich an ihrem Ende kaum vom Bildschirm lösen mag.
Die Leute, die die Serie geschaut haben, berichten davon, dass ihnen die Figuren ans Herz gewachsen sind, dass sie nach ein paar Wochen oder Monaten gewissermassen zu richtigen Freuden werden.

Nach 100 Folgen ist dann Schluss. Offenbar hat man am Ende nichts gelernt, und es hat sich auch nichts im eigenen Leben verändert, weder zum Guten noch zum Schlechten.
Aber alle sagen, es habe sich dennoch gelohnt. Für die, die es geschaut haben, war es einfach gute Unterhaltung, ein Erzählstrom, der die eigenen Gefühle mitnimmt, bei dem man gedanklich einfach mitfährt ohne ein Ziel anzustreben und ohne je eines zu erreichen.

Vielleicht ist genau dies das Geheimnis von guter Unterhaltung: Sie lässt diejenigen, die unterhalten werden, in einem Fluss (in einem Flow) mitdenken und mitfühlen. Ohne jede Absicht werden wir auf eine Reise mitgenommen: Durch Landschaften, durch Räume und Zeiten und vor allem auch durch das Leben anderer Menschen.
Gute Romane funktionieren so, gute Kurzgeschichten, gute Filme natürlich auch. Und auch Serien auf Netflix oder auf anderen Kanälen funktionieren so.
So durchschreiten wir Räume und Zeiten, die mit dem Alltag unserer Welt nichts oder nur wenig zu tun haben. Und genau dies lässt uns die Schwermut dieser Welt vergessen. Die Geschichte ist wegen ihres Unterhaltungswerts eine Erlösung vom Diesseits dieser Welt.
Wer sich zum Beispiel mit Thomas Manns Zauberberg-Figur Hans Castorp gedanklich in Davos aufhält, ist ganz dort und eben nicht mehr im Hier und Jetzt.

Nun will Thomas Mann mit seinem Zauberberg sicher mehr als bloss unterhalten. Motive des klassischen Bildungsromans tauchen auf, der Leser wird über die Endlichkeit des Lebens nachdenken, über die Bedeutung der Zeit und vieles mehr.
Aber das alles würden wir uns ohne die Unterhaltung, die der Roman eben auch bietet, kaum gefallen lassen.

Ähnlich ist es übrigens auch mit den biblischen Schriften. Jane the Virgin hat - ich habe es schon erwähnt - in gewisser Weise eine Vorgängerin - Maria die Jungfrau. Von der Geburt ihres Kindes Jesus ab, nehmen die Evangelien eine rasante Fahrt auf.

Wer eines von ihnen von Anfang bis Ende durchliest, wird eben auch auf eine Reise mitgenommen: Eine Reise mit grossen Gefühlen und Gedanken sicher auch. Natürlich sind die biblischen Schriften nicht lediglich ziellose Unterhaltung. Sie wollen beim Leser den Sinn und Geschmack für das Unendliche erzeugen. Aber ähnlich wie bei einem guten Roman gelingt das nur, weil sie zugleich gute Unterhaltung bieten.

Nehmen Sie die Grosserzählungen des Alten Testaments als Beispiel: Der dramatische Auszug des Volkes Israel aus Ägypten. Die damit verwobene Geschichte des Mose als Einzelschicksal. Die vierzigjährige Wüstenwanderung desselben Volkes unter seiner Führung.
Oder denken Sie an König David, an seine Eskapaden mit der schönen Batsheba, sein Aufstieg zum König über das Grossreich Israel.
Oder erinnern Sie an die Kleinod-Geschichte von Jona im Walfisch. Einfach wunderbar, wie der Wal ihn, nachdem er ihn im Auftrag Gottes verschluckt hatte, an Land und an seinen Bestimmungsort wieder ausspuckt.

Das alles will uns zum Nachdenken über uns selbst anregen, aber es will eben daneben auch gute Unterhaltung sein - und ist es auch! Wenn Sie es nicht glauben: Versuchen Sie es! Lesen Sie irgendeine der wunderbaren Nacherzählungen, leicht zu finden im Internet. Oder nehmen Sie die Bibel in die Hand!

Zum Schluss noch eine Art von besonders gelungener Unterhaltung in höchster ästhetischer Form, die wohl auch nicht nur Unterhaltung sein, sondern programmatisch etwas über die Zeitläufte der Moderne sagen will: Ein wunderbares Stück Orgelmusik von César Franck: Choral in e-dur, gespielt von Miklos Arpas.