Thema: Das Wesen des Menschen II

I

Der Mensch hat ja die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven auf dieselbe Sache einzunehmen. So kann er zum Beispiel einen Baum unter dem Gesichtspunkt der Photosynthese anschauen. Dann hätte man einen Vorgang in den Blick genommen, durch den der Baum Glucose gewinnt, dabei zugleich CO2 verbraucht und Sauerstoff freisetzt, was wiederum für das Leben höherer Tiere auf der Erde die Voraussetzung ist.
Man kann denselben Baum aber auch ganz anders ansehen: Vielleicht ist es ein alter knorriger Baum mit einer Bank darunter, die in seinem Schatten steht und einen Blick auf den See freigibt. Wenn man diese Bank gern besucht, sind möglicherweise Erinnerungen mit ihr verbunden, so dass man ein emotionales und romantisches Verhältnis zu dem Baum entwickelt.
Schliesslich noch ein letztes Beispiel: Derselbe Baum könnte auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten angeschaut werden. Vielleicht steht er einem landwirtschaftlichen Betrieb im Weg und vermindert so den Ertrag. Oder man überlegt sich, wie viel sein Holz wohl einbringen würde, wenn man es verkauft.

II

Ich will damit Folgendes sagen: Wir Menschen haben die Fähigkeit ein- und dieselbe Sache aus verschiedenen Perspektiven in den Blick zu nehmen. Jede dieser Perspektiven hat ihren eigenen Sinn. Und jede dieser Perspektiven hat auch ihren eigenen Wahrheitswert. Es ist aus naturwissenschaftlicher Perspektive wahr, dass ein Baum CO2 verbraucht und Sauerstoff freisetzt. Es ist wahr, dass ein Baum einem Menschen emotional wichtig sein kann und dass er deshalb einen besonderen, in Geld nicht messbaren Wert für ihn hat.
Es ist zudem zugleich auch wahr, dass derselbe Baum aus nanderer Perspektive sehr wohl einen pekuniären Wert hat, weil beispielsweise sein Holz eine bestimmte Menge Geld einbringen würde.

III

Nun kann auch der Mensch selbst derart mehrperspektivisch angeschaut werden. Selbstverständlich trifft das auch auf seine Entstehung zu. In der biologischen Wissenschaft ist es seit Charles Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts sein epochemachendes Werk über die Entstehung der Arten vorgelegt hatte, Stand unseres Wissens, dass der Mensch vom Affen abstammt. Wir sind das Produkt von Genmutationen, durch die eine neue Tierart aus derjenigen der Affen hervorgegangen ist: der Mensch.
Solche Mutationen kommen in der Natur immer wieder vor, sie sind dem blossen Zufall geschuldet. Zuweilen kann sich die dadurch neu entstehende Art in der Natur auch durchsetzen und ihr eigenes Überleben sichern – dann nämlich, wenn sie besser an die Umwelt angepasst ist, als mögliche Konkurrenten um denselben Lebensraum und dieselben Ressourcen.

IV

Der Mensch war und ist vor allem wegen seiner geistigen Fähigkeiten dazu in der Lage, sich durchzusetzen. Ohne die besondere Leistungskraft seines Hirns hätte er in der Natur kaum überleben können. Das weiss man heute.
Nun kann man denselben Menschen aber auch unter anderen Gesichtspunkten anschauen:

Man kann seine Entstehung auch als einen Vorgang begreifen, aus dem ein besonderes Wesen hervorgegangen ist, dem wir einen besonderen Wert zuschreiben. Menschen haben eigentlich, so sagen wir, gar keinen Wert, sondern eine Würde. Und das bedeutet: Der Wert des Menschen ist unendlich, er kann mit einem Ding oder eine Sache gar nicht verglichen werden. Der Wert des menschlichen Lebens kann deshalb auch mit Geld nicht aufgewogen werden. Auch dies meint der Würdebegriff.

V

Gern will ich Ihnen an dieser Stelle einmal lesen, was der erste Schöpfungsbericht aus dem Genesisbuch zur Entstehung des Menschen sagt:

26 Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich. Und sie sollen herrschen über die Fische des Meers und über die Vögel des Himmels, über das Vieh und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die sich auf der Erde regen. 
27 Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.
Nun kann man sich ja fragen unter welche Perspektive der Mensch hier in den Blick genommen wird. Es liegt nahe anzunehmen, dass es nicht bloss eine Perspektive ist. Der biblische Text kann als Weltliteratur gelten. Und das bedeutet in diesem Fall auch: Es werden in wenigen Sätzen sehr viele Dinge gesagt: Da ist zum einen das Verhältnis des Menschen zum Rest der Welt. Der Mensch herrscht über die Fische des Meere, über die Vögel des Himmels über das Vieh und über die ganze Erde...
Auf diese Weise wird die Stellung des Menschen in der Welt namhaft gemacht. Tatsächlich ist es ja genauso, wie der Schöpfungsbericht es beschreibt. Natürlich steht heute häufig in Frage, ob wir Menschen unsere Macht nicht missbrauchen. Aber selbst wenn wir versuchen, uns beim Verbrauch der Ressourcen zurückzunehmen (wie es ja vernünftig wäre), so ist das nur möglich, weil wir gewissermassen über den Dingen stehen und unserem Umgang mit der Welt steuern können.

VI

In diesen wenigen Sätzen wird aber noch mehr gesagt: Auffallend ist ja die Ähnlichkeit zu Gott, die der Text dem Menschen zuspricht: Lasst uns Menschen machen, als unser Bild, uns ähnlich.
Vermutlich soll doch auch damit eine Besonderheit des Menschen ausgesprochen werden. Kein anderes Wesen ist Gott ähnlich. Die Ähnlichkeit bezieht sich gewiss darauf, dass der Mensch ein freies Wesen ist. Als willensfrei beschreibt die Bibel eben nicht nur den Menschen, sondern auch Gott.
Gewiss meint die herausragende Stellung des Menschen, die ihm der biblische Bericht zuschreibt, auch seine Würde. Er ist Gott ähnlich, von unendlichem Wert. Seit der Renaissance sagt man deshalb auch, der Mensch habe wegen seiner Gottähnlichkeit eine Würde.

VII

Dies alles will der erste Schöpfungsbericht in seinem Vers 26 gewiss sagen. Der Bericht spricht Wahrheiten über den Menschen aus: Über seine Weltstellung, über seine Würde, darüber, dass er einen besonderen Status hat im Vergleich zu allen anderen Naturwesen. Dies ist die Perspektive, die der Bericht im Genesisbuch einnimmt.

Ganz sicher will der Bericht aber keine Aussage im naturwissenschaftlichen Sinn unserer Tage machen. Denn die Perspektive, einen Vorgang systematisch nach Ursache-Wirkmechanismen im Sinne unserer heutigen Naturwissenschaften anzuschauen, gab es damals noch gar nicht.

Wer mit den Augen des heutigen Evolutionsbiologen auf die Welt schaut, muss also den Menschen so begreifen, dass er vom Affen abstammt. Es ist aber kein Widerspruch dazu, zugleich auch andere Perspektiven auf den Menschen einzunehmen: Fragt man zum Beispiel in der Ethik nach dem Wert des Menschen, so lässt sich unter Bezugnahme auf den Schöpfungsbericht unfraglich von seiner Gottebenbildlichkeit und Würde sprechen.
Es ist – wenn man den Perspektivenwechsel in Rechnung stellt - kein Problem den Menschen als Nachfahren des Affen und als Gottes Ebenbild zugleich zu verstehen.

VIII

Weitere Perspektiven auf den Menschen sind schon in der rallentando-Ausgabe vom 22. Juli angesprochen worden. Man kann den Menschen insgesamt so anschauen als sei er einer komplexen Maschine gleich, das haben wir uns in dieser Ausgabe klargemacht: Ein Wesen, das rein aus Materie besteht, die zu einem komplexen Gebilde organisiert ist. So hatten es die Atomisten der griechischen Antike schon gesehen, dann auch der französische Materialismus der Aufklärungszeit. Und in gewisser Weise ist dies auch heute noch der Blick einiger Neurowissenschaftler, die das menschliche Gehirn und unser Denken und Fühlen als einen Vorgang beschreiben, bei dem elektrische Ströme und Botenstoffe ausgetauscht werden und so bestimmte Hirnregionen ansprechen. Diese Vorgänge machen sich dann für uns als Gefühle und Gedanken bemerkbar.

Man kann so auf den Menschen schauen. Aber es ist doch lediglich eine Perspektive unter anderen. Weitere Perspektivne sind nötig. Denn kein Mensch würde doch sagen, dass sein Gefühl der Liebe, des Glücks oder der Trauer hinreichend beschrieben ist, wenn man es als eine erhöhte Neuronenaktivität einer bestimmten Hirnregion beschreibt. Sondern dazu braucht es auch noch andere Beschreibungsweisen. Solche zum Beispiel wie sie in Romanen, in Gedichten oder in den biblischen Schriften oder einfach im Gespräch zwischen zwei Menschen gegeben sind.

Amen