Wo wohnt Gott?

I

Niemand hat Gott je gesehen.

Der Satz ist unfraglich wahr. Und er steht so niedergeschrieben im 1. Kapitel des Johannesevangeliums – dort in Vers 18.

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Dass niemand Gott je gesehen hat, macht es leider schwierig, überhaupt etwas über Gott zu sagen. Man kann sich einfach keine Vorstellung von ihm machen, weil er nicht anzuschauen ist.
Bei Lichte besehen ist es sogar so, dass man nicht einmal mit Sicherheit wissen kann, ob es ihn überhaupt gibt. Die Existenzfrage wäre also zunächst zu klären, erst danach liesse sich über Weiteres diskutieren.
In der Geschichte der christlichen Theologie hat es deshalb einige Anstrengungen dazu gegeben, einen Beweis für seine Existenz zu erbringen.

II

Gern möchte ich Ihnen davon eine Kostprobe geben, die von einem grossen Gelehrten des Mittelalters stammt, Anselm von Canterbury. Er hat im 11. Jahrhundert den vielleicht berühmtesten Gottesbeweis überhaupt vorgelegt: den sogenannten ontologischen Gottesbeweis.

Anselm nimmt sich zunächst den blossen Begriff Gottes vor. Und das ist eigentlich ganz klug von ihm gemacht. Denn man niemand kann leugnen, dass das Wort Gott in unserer Sprache vorkommt. Selbst Atheisten verwenden es, um die Existenz Gottes zu leugnen. Aber auch sonst kommt der Begriff in unserem Sprachgebrauch ja ständig vor. Zuweilen verwenden wir ihn lediglich beiläufig, manchmal aber, zum Beispiel in unseren Gottesdiensten oder in dieser Andacht, auch ganz bewusst.

III

Anselm fragt also, was wir da eigentlich meinen, wenn wir von Gott reden. Und er gibt eine einfache Definition ab, der man wohl umstandslos zustimmen kann: Wenn wir Gott sagen, meinen wir ein Wesen das vollkommen ist, so vollkommen, dass darüber hinaus nicht Vollkommeneres gedacht werden kann.
Selbst Atheisten würden dem vermutlich zustimmen. Sie würden lediglich hinzufügen, dass es ein derart vollkommenes Wesen nicht gibt.
Anselm meint ganz im Gegenteil nachweisen zu können, dass genau diese Leugnung der Existenz Gottes nicht zu verstehen ist.
Denn, so Anselm, wenn man sich den Begriff der Vollkommenheit vornimmt, dann sei klar, dass dasjenige Wesen, von dem man meint, es sei so vollkommen, dass nichts Vollkommeneres darüber hinaus gedacht werden könne, zugleich auch existiert.
Wenn man sich nämlich ein vollkommenes Wesen denkt, von dem man zugleich annimmt, es sei nicht existent, dann hat man die Aufgabe klar verfehlt. Man denkt sich dann nämlich in Wahrheit noch nicht das vollkommenste Wesen. Das ist so, weil zur vollkommenen Vollkommenheit auch die Existenz gehört.
Und das bedeutet, so schliesst Anselm daraus, dass Gott als das vollkommste aller überhaupt denkbaren Wesen notwendig existiert.

Anselms Beweis hat viele Anhänger gefunden, aber auch viele Kritiker. Gleich geht es weiter damit. Aber zunächst gibt es ein Stück Musik zu hören, das André Duponds für uns komponiert und eigenspielt hat...

IV

Anselms ontologischer Gottesbeweis hat in der auf ihn folgenden Geschichte eine grosse Karriere gemacht. Er ist in abgewandelter Form zum Beispiel im 17. Jahrhundert bei René Descartes oder im 20. Jahrhundert beim Mathematiker Kurt Gödel wieder aufgetaucht.
Selbstverständlich ist der Beweis aber auch nicht ohne Kritik geblieben.
Das stärkste und bis heute bleibende Argument gegen den Beweis hat aber Immanuel Kant geliefert: Er hat den grundsätzlichen Fehlschluss, den der Beweis in Anspruch nimmt, aufgedeckt: 100 gedachte Franken sind eben nicht automatisch auch 100 reale Franken. Der blosse Begriff eines allervollkommensten Wesens reicht nicht aus, um aus dem Begriff auch die Existenz dieses vollkommenen Wesens herauszuklügeln.

V

Kants Philosophie ist überhaupt ein Markstein für alles Nachdenken über Gott. Seine 1781 erstmals erschienenes Hauptwerk «Kritik der reinen Vernunft» räumt auch mit allen anderen sogenannten Gottesbeweisen gründlich auf.
Es gibt keinen Beweis für seine Existenz, weil wir ihn nicht anschauen können. Dass wir das nicht können, wusste schon das Johannesevangelium:

Niemand hat Gott je gesehen.

VI

Kants Kritik hat im Wesentlichen bis heute Bestand.
Das bedeutet aber nicht, dass die Atheisten am Ende Recht bekommen. Das Gegenteil ist der Fall. Denn ohne Religion kann der Mensch eben auch nicht sein. Kein Mensch kann sich sein Leben erklären ohne mit den Gedanken oder mit dem Gefühl oder mit dem Gewissen auf eine höhere, der Welt überhobenen Instanz zuzugreifen.

Machen wir es uns an einem Beispiel klar: Gott kommt in unserer Gefühlswelt vor, wie ich mit einem weiteren grossen Theologen meine. Sein Name ist Friedrich Schleiermacher. Er hat im 19. Jahrhundert versucht, die Religion auch nach Kants Kritik als etwas zu begreifen, das zum Wesen des Menschen unweigerlich dazugehört.

Um das zu zeigen, fängt er so an: Jeder Mensch hat ein Gefühl für sich selbst und auch für die Welt, die uns umgibt. Wir wissen ohne nachdenken zu müssen wer wir sind und auch, dass es eine Umwelt und andere Menschen um uns herum gibt. Man hat ein Grundgefühl von sich und von der Welt.
Und wir wissen mit demselben Grundgefühl zugleich, dass wir das alles nicht von uns aus ins Leben gerufen haben. Es gibt auch kein anderes Ding oder Wesen in der Welt, die die Macht dazu hätten, das alles aus sich heraus zu schaffen: Weder die Welt noch uns selbst noch das Grundgefühl, in dem das alles – die Welt und wir selbst - ja auftaucht, kann durch etwas in der Welt geschaffen worden sein. Dazu reicht die Macht der endlichen Dinge und Wesen einfach nicht aus.
Genau aus diesem Grund wird unser grundlegendes Welt- und Selbstgefühl immer begleitet durch eine weitere Nuance: nämlich durch das Gefühl, dass wir selbst und alles andere abhängig sind von etwas, das nicht die Welt ist. Dieses andere heisst in der christlichen Religion Gott.
Schleiermacher behauptet, dass es überhaupt keinen Menschen gibt, der ohne dieses Gefühl auskommt – und sei es noch so tief in den Hinterstuben unseres Bewusstseins versteckt.
Ich finde das plausibel. Wenn man den Gedanken weiterdenkt bedeutet das: Das Gefühl der Religion entzündet sich bei jedem Weltkontakt. Es wird immer mitgedacht – oder besser gesagt: mitgefühlt -, dass wir weder die Welt noch uns selbst aus uns selbst erzeugt haben, dass dies alles vielmehr abhängt von einer überweltlichen Instanz, die Gott heisst.

VII

Nun kann man sich fragen, ob das eine neue Art des Gottesbeweises ist. Das soll es aber ausdrücklich nicht sein. Denn ob Gott existiert, ist damit nicht bewiesen. Man kann das nur glauben.
Und in gewisser Weise muss man es sogar glauben, wenn man den Gedanken Schleiermachers folgen will. Im strengen Sinn wissen – so wie ich weiss, dass das hier ein Blatt Papier ist – kann man von der Existenz Gottes aber nicht.

VIII

Gott kommt also zum Beispiel in meinem Gefühl vor, als derjenige Schöpfer, von dem die Welt und ich selbst unendlich abhängig sind.
Übrigens gilt das für den Rest der Welt auch: Wenn die Welt in meinem Bewusstsein – in meinen Gefühlen zum Beispiel – nicht auftauchen würde, dann wüsste ich nichts von ihr. Mit Gott ist es ebenso.

IX

Wo also wohnt Gott? Das weiss natürlich niemand. Aber so viel lässt sich sagen: Er ist in unseren Gefühlen und in unseren Gedanken und in unserem Gewissen gegenwärtig. Wenn er dort nicht wäre, wüssten wir überhaupt gar nichts von ihm. Das ist auch der Grund, warum wir unsere Gefühle, oder Gedanken oder unsere moralischen Entscheidungen immer wieder mit der Religion in Verbindung bringen. Die Gefühle, die wir beim Hören eines Stücks Klaviermusik haben, verbinden sich dann zum Beispiel mit unserem Gottesgefühl.

Dort also erscheint er: In unserem Bewusstsein. Aber als Gott. Und das heisst: Gott ist zugleich der, der dieselben Gefühle und Gedanken und unser moralisches Bewusstsein, in denen er selbst erscheint, auch schafft und der dies alles auch durch die Zeit erhält. Wir selbst könnten das gar nicht. Und auch keine andere Macht dieser Erde. Das kann nur Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erden.

Amen