Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und als Frau schuf er sie. (Gen 1, 27)

Mit diesem berühmten Worten aus dem ersten Kapitel des Genesisbuchs begrüsse ich Sie herzlich zum Gottesdienst in der Kirche Tal in Herrliberg. Heute darf ich nicht nur die Gemeinde hier vor Ort begrüssen, sondern auch Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer und liebe Zuhörerinnen und Zuhörer am Radio und am Fernseher. Durch die mediale Übertragung des Gottesdienstes sind wir eine grosse Gemeinde. Darüber freue ich mich auch deshalb, weil die Schutzmassnahmen in Hinsicht auf das Corona-Virus nur eine beschränkte Anzahl von Anwesenden in der Kirche selbst zulassen.

Der erste Schöpfungsbericht, wie er im Genesisbuch steht, erzählt bekanntlich ja davon, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen worden sei. Um zu begreifen, welchen Sinn dieser Bericht hat, darf man ihn allerdings nicht wörtlich lesen. Der Text will keine Aussagen über die Ursache der Welt im naturwissenschaftlichen Sinne machen. Es geht nicht um die sieben Tage im strengen Sinn. Sondern hier wird eine Ordnung beschrieben, wie man sie zur damaligen Zeit - in der der Text abgefasst worden ist – erkannt hat. Die Dinge der Welt scheinen aufeinander bezogen zu sein – so dass das Leben auf der Erde möglich ist. Als lebensdienliche Ordnung nehmen wir die Welt ja auch heute noch wahr.

Einen Höhepunkt hat der Schöpfungsbericht da, wo er von der Erschaffung des Menschen berichtet. Man darf auch das nicht so lesen als würde hier in irgendeinem Sinn eine naturwissenschaftliche Aussage über die Entstehung des Menschen gemacht. Heute wissen wir ja, dass der Mensch vom Affen abstammt.
Im Schöpfungsbericht geht es aber nicht darum, sondern es geht um ein Werturteil. Der Mensch ist – das steht da – ein Ebenbild Gottes. Wir sind Gott ähnlich. Und das soll heissen: Wir sind heilig, wie er heilig ist. Heute würden wir sagen: Wir haben nicht bloss einen Wert, sondern eine Würde.
Das will der Schöpfungsbericht hier sagen. Nicht mehr, vor allem aber auch nicht weniger.
Ja, dass der Mensch eine Würde hat, ist eine Idee, die hier ihre Wurzel hat. Dass das nun nicht nur vom Menschen im Allgemeinen gilt, sondern von jedem einzelnen Menschen, soll uns im Verlauf des Gottesdienstes beschäftigen.

Liebe Gemeinde

I

Wer heute eine Ferienreise bucht, erwartet ein einmaliges und individuelles Erlebnis. Und solche Erlebnisse werden uns auch versprochen. Die Reiseveranstalter sprechen geradezu inflationär von aussergewöhnlichen Unterkünften, von einzigartigen Stränden oder von unverwechselbaren kulinarischen Eindrücken, die uns an den Destinationen unserer Wahl erwarten. Wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Und doch lassen wir uns auf das Versprechen ein.

II

Die Ferienangebote stehen beispielhaft für unseren gesamten Lebenskosmos: Autos werden vor dem Kauf individuell konfiguriert, Sprachschulen versprechen individuellen Lernerfolg, Dienstleistungen, wie der Einbau einer neuen Küche oder die Beratung bei der Anlage unseres Vermögens, gelten als besonders hochwertig, wenn sie persönlich auf uns und unsere Bedürfnisse zugeschnitten sind. Standardlösungen sind in jedem Fall zweitrangig. Das gilt auch für den Umgang mit unseren Kindern und für die Art, wie wir unsere Ehe führen. Wir verstehen uns jedenfalls so, dass wir weder so sind wie unsere Nachbarn noch so sein wollen. Jeder von uns ist unverwechselbar individuell.

III

Nun meine ich tatsächlich, dass der Zug zur Individualisierung seit den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts einen starken Schub erhalten hat (vgl. A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten).
Die Idee, dass jeder Mensch besonders ist und es verdient, auf einzigartige Weise wahrgenommen und angesprochen zu werden, ist aber viel älter. Sie geht auf die biblischen Schriften zurück. Man kann das ganz leicht ablesen an einer Erzählung wie unserer Schriftlesung. Es lohnt sich, so der Kern des Gleichnisses, einem einzelnen Schaf nachzugehen, das sich verirrt hat. Niemand wird aufgegeben. Das Individuum ist wichtig und von Wert. Das Christentum ist diejenige Kultur, in der jede einzelne Seele einen unendlichen Wert geniesst.

Für uns ist es ja tatsächlich selbstverständlich, jede einzelne Person zu achten und jede einzelne Person zu fördern. Zum Beispiel erziehen wir unsere Kinder nach diesem Prinzip. Unser gesamtes Bildungssystem ist so eingerichtet, dass es die Schüler in die Lage versetzt, ihr Leben individuell und selbstbestimmt zu führen.
Oder ein anderes Beispiel: Der Kern unseres Staatswesens und unserer Rechtsprechung läuft auf den Schutz des Individuums und auf die Wahrung seiner Freiheit hinaus.
Das alles ist eine Frucht der jüdisch-christlichen Tradition. Dass andere Kulturen anders funktionieren und andere Werte verfolgen, lässt sich leicht ausmachen, wenn man den Blick in die globalisierte Welt hinausschweifen lässt. Das Wohl des Einzelnen ist eben nicht immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es gibt ja viele Gesellschaften und Staaten, in denen der Einzelne sich selbstverständlich den Zielen des Staats, einer nationalistischen Idee oder dem Überleben von Clangruppen unterzuordnen hat.
Zuweilen hat es solche Tendenzen auch in Europa gegeben – auch im 20. Jahrhundert noch. Mit dem Christentum und seiner Lehre vom unendlichen Wert der menschlichen Seele aber ist das alles nicht in Einklang zu bringen.

IV

Um zu beschreiben, in welcher Welt wir leben, müssen wir noch eine zweite Beobachtung machen, die der ersten diametral entgegenzulaufen scheint. Ich würde gern wieder mit einer Reihe von Beispielen beginnen, um deutlich zu machen, was ich im Blick habe.
Wer heute vor Gericht erscheint, über den wird Recht gesprochen ohne Ansehen der Person. Wer auf der Anklage- oder auf der Klägerbank sitzt, wird also als Fall behandelt.
Genauso ist es in der Medizin und bei der Abwicklung von Geschäften.
Unsere Namen und Persönlichkeiten sind bei dem meisten Geschäften gleich-gültig. Der Kassierin im Supermarkt ist es ganz egal, ob ich es bin, der die Waren auf ihr Fliessband legt oder jemand anderes. Im Prinzip ist es auch mit dem Bankberater, der mich berät, so und mit dem Arzt, der mich behandelt. Am Telefon sprechen wir zuweilen mit Sprachrobotern. Nirgends wird einem deutlicher vor Augen geführt, dass man ein Fall unter anderen ist. Man hat zuweilen noch die Wahl zwischen Taste 1, 2 oder 3. Weiter wird auf meine individuelle Persönlichkeit nicht eingegangen.
Für alles gibt es Regeln. Alles ist rationalisiert und funktioniert nach allgemeinen Vorgaben, die standardisiert gelten. Sie werden in jedem Fall angewendet, ganz gleich, wer wir sind.

V

Häufig wird gesagt, so sei es eben in den modernen Zeiten. Und es stimmt, dass diese Art von Rationalisierung und von regelgeleiteter Bürokratisierung typisch für die Moderne ist, in der wir alle uns bewegen.
Man kann sagen: Gott sei Dank ist das so. Denn natürlich ist es ein Segen, dass vor dem Recht heute jeder Mensch gleich ist. Gott sei Dank, ist es so, dass ein Arzt mich gleichbehandelt wie einen Bundesrat oder meinen Nachbarn. Das alles war nicht immer so. Im Mittelalter noch waren die Rechte (und Pflichten) ungleich verteilt. Sie ergaben sich aus der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand.
Gott sei Dank ist es aber heute so, dass es heute Supermärkte gibt, in denen man anonymisiert einkaufen kann. Sie sind viel effizienter, produktiver und günstiger als jeder Marktstand aus früheren Zeiten. Die Moderne hat viel Wohlstand für uns alle erzeugt und bedeutet viel Segen für alle Menschen, die an ihr teilhaben können – für uns alle also.

VI

Aber in all diesen Prozessen wird doch das Individuum, wird unsere besondere Persönlichkeit bis zu einem gewissen Grad verschluckt. Die Moderne schlägt jede und jeden von uns über einen Leisten.
Für das Funktionieren der Wirtschaft, des Staats, des Rechts, der Wissenschaft, der Medizin ist es tatsächlich gleichgültig, wer wir im Einzelnen sind.
Man konnte das bei der Bewältigung der Corona-Krise beobachten: Der Bundesrat und das BAG haben ihre Sache aus medizinischer Sicht bisher gut gemacht. Wir haben niedrige Fallzahlen.
Manchmal hat das BAG aber Verwirrung gestiftet. Als es plötzlich wieder möglich sein sollte, dass Enkel ihre Grosseltern umarmen, wussten viele Familien nicht, was das nun für sie ganz individuell bedeutet. Sie hätten gern gewusst, ob das Risiko einer Übertragung des Virus für sie persönlich neu nun ausgeschlossen werden konnten.
Aber so denkt das Bundesamt für Gesundheit nicht. Da geht es nicht um den Einzelfall, sondern um statistische Grössen: Wenn es eine oder zwei Familien trifft, ist das aus volksgesundheitlicher Perspektive kein Problem. Für die Familien selbst, ist es aber sehr wohl ein Problem, wenn das Virus bei ihnen übertragen wird.
Das BAG muss so denken, wie es denkt. Sonst würde es seinen Job nicht gut machen. Und doch gibt es – das war den Fragen und der Verwirrung rund um den Entscheid zu entnehmen – das Bedürfnis, man könnte klären, wie es im Einzelfall in der eigenen Familie aussieht.
Es ist das biblische Erbe der unendlichen Wichtigkeit des einzelnen Lebens, das sich hier meldet: Wir wollen wissen, wie es um uns ganz persönlich steht und was die Regeln für uns im Besonderen bedeuten.

VII

Unsere Welt ist also seltsam widersprüchlich: Der unendliche Wert jeder einzelnen Seele ist der Leitgedanke unserer Kultur. Zugleich haben wir unsere Gesellschaft so eingerichtet, dass dieser Leitgedanke häufig untergeht: Zwar werden wir im Internet von den Betreibern der Webseiten häufig persönlich und per Du angesprochen. In Wahrheit geht es aber nicht um uns als Persönlichkeit, sondern wir sind bei der Datenverarbeitung nichts weiter als eine IP-Adresse.
Im Prinzip haben die grossen Umwälzungen der letzten 30 Jahre das Gefühl der Anonymisierung nur gesteigert. Die Globalisierung hat uns gezeigt, dass wir ein Rädchen unter 8 Milliarden anderen sind – also nicht von Bedeutung für das Geschehen in der Welt.
Und weil das so ist, versuchen die Menschen – versuchen wir alle – dem Gefühl der eigenen Belanglosigkeit entgegen zu wirken.
Wenn ich im Netz schon nichts weiter bin als eine Nummer, dann will ich wenigstens auf meiner Facebook-Seite und auf Instagram als einmalige Persönlichkeit erscheinen. Wenn ich schon in der Arbeitswelt ein austauschbares Rädchen bin, dann will ich wenigstens in den Ferien eine einmalige Bucht auf einer einmaligen Insel erleben.
Wenn ich schon in Wahrheit Kleider von der Stange kaufe, dann sollen mir diese aber doch das Gefühl vermitteln, ich könnte sie in einzigartiger Weise so kombinieren, dass sie meinen ganz persönlichen Style ergeben.
Das Bedürfnis nach personalisierten und einmaligen, genau auf mich zugeschnittenen Angeboten beim Konsum, in den Ferien, bei der Wahl meiner Kleider, bei der Finanzberatung und an vielen anderen Orten ist also zu verstehen als eine Reaktion auf das Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit.

VIII

Im Prinzip suchen wir alle nach einer Welt, in der wir ganz persönlich als diejenigen, die wir eben sind, von Belang sind. Denn das ist es, was das Evangelium uns verheissen hatte.

Übrigens kann dieses Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit auch noch anders erzeugt werden – nämlich dann, wenn wir von einem anderen Menschen ganz persönlichen Zuspruch erhalten: Wenn unsere Kinder uns sagen, dass wir so, wie wir sind, wichtig für sie sind. Oder wenn umgekehrt wir unseren Kindern zusprechen, dass sie als die ganz speziellen Menschen, die sie sind, unendlich wichtig für uns sind. Oder wenn ein Arbeitgeber und ein Arbeitnehmer ihr gemeinsames Schaffen nicht bloss als ein Geschäft begreifen, in dem Kapital erwirtschaftet wird, sondern als einen Vorgang, in dem gegenseitige Wertschätzung zum Ausdruck kommt. Oder wenn ein Arzt mich nicht nur unter dem Gesichtspunkt anschaut, ein Fall unter vielen zu sein, sondern gleichzeitig meine besondere Situation mitbedenkt.
Immer wenn so etwas geschieht, haben wir das Gefühl als Individuum Anerkennung zu erlangen.

IX

Ja, Es scheint mir ganz klar zu sein, dass uns unsere eigene Bedeutsamkeit immer dort am klarsten vor Augen steht, wo sie uns durch jemand anderen zugesprochen wird. Nun ist unser Gott auch ein Gegenüber. Einer, der uns genauso wahrnimmt, wie es uns in den biblischen Schriften verheissen ist. In seinem Buch sind unsere Tage schon verzeichnet, noch bevor wir geboren werden. Die Bibel stellt einen Gott vor, der uns als Individuen und den besonderen Gang unseres Lebens will. Er hat uns auf seinem Plan, jeden von uns.
Unser Leben ist von Bedeutung. Das ist die biblische Botschaft. Und diese Botschaft wird immer da ganz real und konkret erfahrbar, wo uns ein Mensch begegnet, der uns unsere Bedeutsamkeit als Individuum erfahren lässt.
Zur Zeit Jesu ist es nicht anders gewesen: Die Menschen konnten diese göttliche Botschaft von der Wertschätzung des Einzelnen an einem Menschen und durch einen Menschen erfahren, dessen Name Jesus Christus war.

X

Wie gesagt: Diese Botschaft ist heute in besonderer Weise angefochten, weil die Moderne, die eigentlich ein Segen für uns alle ist, zugleich auch ein paar Probleme für uns mit sich bringt: So auch das Gefühl der Einzelnen, ein Rädchen in einem riesigen Funktionsgetriebe zu sein, das gleichmässig abläuft, ganz gleich, wer wir sind.

Im Prinzip muss man gegen die Gleichmacherei der Moderne glauben können, was einem die vertrauten Menschen um einen herum zusagen: Dass man genau so, wie man ist, wichtig und richtig ist. Wer es nicht glauben kann, wird versuchen müssen, seine Einzigartigkeit anders unter Beweis zu stellen: Zum Beispiel indem er in der nun kommenden Ferienzeit der einzigartigen Bucht mit einmaligem Sandstrand hinterherjagt, selbst dann, wenn es sie in Wahrheit gar nicht gibt.
Wer aber daran glauben kann, dass er für einen (oder mehrere) Menschen und für Gott wichtig ist, der muss es eben nicht mehr unter Beweis stellen. Sondern er glaubt es schon und ist dessen also gewiss. Man kann dann trotzdem in den Ferien noch die beste Bucht mit dem besten Strand auf Erden suchen. Aber man muss es nicht mehr und ist dennoch schon im Paradies.

Amen