Romantik: Die Entdeckung des Singulären

Liebe rallentando-Gemeinde

Das von Christian Meldau gerade vorgestellte Stück von Franz Liszt mit dem Titel «ad nos ad salutarem undam» ist im Jahr 1850 komponiert worden. Es fällt also in die Zeit der Romantik.
Bitte erlauben Sie mir ein paar Gedanken, mit denen wir uns der Zeit und der Haltung der der Romantik annähern.

a) Zunächst muss man sich klar machen, dass die Romantik sich von zwei Denkrichtungen absetzt, die ihr vorauslaufen. Zum einen ist es die Aufklärung. Sie versucht alles, was der Mensch wahrnimmt, denkt und tut durch allgemeingültige und rationale Gesetzmässigkeiten zu erklären. Ganz anders die Romantik. Sie hat einen Sinn für das Geheimnisvolle, für die Dinge, die uns Geschehen; für die Dinge, die sich nicht ohne weiteres durch rationale Gedankenoperationen erklären lassen. Die Romantik nimmt den Menschen also nicht bloss als ein rationales und vernünftiges Wesen wahr. Sondern sie entdeckt die Gefühlswelt in uns, die Leidenschaften, Sehnsüchte und Abgründe in unserer Seele, die sich allesamt nicht ohne weiteres als vernünftig erklären lassen.

b) Es lässt sich, wenn man ganz genau hinsieht, eigentlich auch überhaupt kein Ding, kein Wesen und auch kein Mensch dadurch erfassen, dass man sie durch ein zu enges Korsett von Ideen und Begriffen wahrnimmt. Vielmehr ist es zum Beispiel so, dass kein Mensch einem anderen gleicht. Wir sind individuell. Es lässt sich lediglich von Ähnlichkeiten zwischen den Individuen sprechen, aber der Versuch, dem Menschen durch allgemeine Begriffsdefinitionen gerecht zu werden, ist eine schlechte Gewohnheit der Aufklärung gewesen, wie die Romantiker meinen.
Es lässt sich nicht genau sagen, was der Mensch im Allgemeinen ist. Man muss genauer hinschauen. Der Mensch kommt nur in Variationen vor. Individuen lassen sich eben nicht über einen Leisten schlagen.
Ich meine, dass man diese Haltung in Liszt grossem Orgelstück wiederfinden kann. Christian Meldau hat schon darauf hingewiesen, dass es dort ein Thema gibt, das sich ständig wiederholt. Aber nie so, dass es sich identisch wiederholt. Sondern es wird immer wieder verändert, es ist mal laut, mal leise da, mal melodiös, mal verzerrt, mal genau herauszuhören, dann wieder kaum wieder zu erkennen. Es ist eine ganze Palette von Gefühlen und Leidenschaften, von Gedanken und Vorstellungen zu hören, die alle individuell sind. Keine Variation gleicht einer anderen. Zwar gibt es eben eine Ähnlichkeit zwischen den Varianten des einen Themas in Liszts Orgelstück und eben auch zwischen den Individuen unter den Menschen. Aber man muss eben zugleich die Unterschiede, das Singuläre, sehen und hören.

c) Die Romantiker sind der Auffassung, man müsse nicht nur die Aufklärung mit ihrem Rationalitätszwang hinter sich lassen, sondern auch die seit der Renaissance geläufige Orientierung an der Antike. Das ist die zweite grosse Selbstabsetzung, die in der Romantik vollzogen wird. Der ewige Blick zurück und die ewige Ausrichtung des eigenen Denkens, des eigenen Stils an den idealen der (griechischen) Antike, war den Romantikern zuwider. Sie wollten Neues kreieren: in der bildenden Kunst, in der Architektur, sie wollten auch ein neues Menschenbild aus der Taufe heben. Die Romantik wendet den Blick nicht mehr zurück, sondern nach vorn. Sie ist ein zukunftsorientiertes Projekt. Und sie war bereit zu akzeptieren, dass der Mensch sich in Zukunft stets wandeln und immer und immer neu erfinden wird. Auch das hört man, wie ich meine. Liszts Stück entwickelt nicht nur immer neue Variationen der einen Melodie. Sondern es bricht, so hat Christian Meldau mir bestätigt, mit den konventionellen aus der Vergangenheit tradierten Techniken der Komposition. Es erfindet – lassen Sie mich das einmal so laienhaft sagen – die Orgelmusik in gewisser Weise neu.

d) Auch die Religion ist in der Romantik immer wieder und auf sehr unterschiedliche Weise thematisiert worden. Von dem grossen Theologen Friedrich Schleiermacher zum Beispiel ist Religion im Bereich der Gefühle verortet worden. Religion ist, so sagt er, das Gefühl, dass mein Leben und die ganze Welt abhängen von einem Grund, der in der christlichen Tradition Gott genannt wird. Menschen erleben dies immer und immer wieder auf sehr unterschiedliche Weise.

Nun kann man sagen, dass die Kunst der Romantik häufig auch versucht hat, dieses Gefühl zu erzeugen oder auszudrücken. Ob Liszt es bei der Komposition seines Stücks darauf angelegt hat, weiss ich nicht. Ich vermute, dass das eher nicht der Fall war. Aber vielleicht hören sie doch etwas von dem Thema der Religion in dieser Musik. Es ist ja bekanntlich individuell, wie man ein Musikstück wahrnimmt. Da hatten die Romantiker schon recht.

Ad nos salutarem undam, gespielt von Christian Meldau...