Luther, Zwingli und Harari

I

Es gibt Ideen, die sind über die Jahrhunderte hinweg stabil und prägen die Geister jeder Generation aufs Neue.
Seit sich im 16. Jahrhundert die Reformation Bahn gebrochen hatte, ist die Idee der Freiheit in der Welt. Wenn man so will, waren es die beiden grossen Köpfe dieser Bewegung, die das Individuum und seine Freiheit erfunden haben: Martin Luther und Ulrich Zwingli.

Man hat das schnell auch so verstanden, dass damit die Freiheit des Individuums von der Gängelei der staatlichen Macht gemeint ist.

Luther hatte ja vorgemacht, wie solche Freiheit aussieht, als er auf dem Reichstag zu Worms seine reformatorischen Schriften nicht widerrufen wollte und dem Kaiser ins Angesicht widersprach. Er hat sich dabei auf die Freiheit seines Gewissens berufen hat: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. So oder so ähnlich muss Luther es gesagt haben: ... weil es weder sicher noch heilsam sei, etwas wider das Gewissen zu tun.

Dies dem Kaiser gegenüber zu sagen oder auch nur zu denken, war eigentlich eine Unmöglichkeit. Was da geschah, war nicht bloss eine Reformation des Denkens, sondern eine Revolution.
Und es war der Anfang einer grossartigen Geschichte der Freiheit des Individuums von der Bevormundung durch die Machthaber. Es hat einige Zeit gedauert, bis sich diese Idee vollends durchgesetzt hat, aber nun ist sie stabil.

Sie ist so attraktiv, dass sie allen Anfechtungen widersteht. Die Europäer, die Amerikaner und weite Teile der Weltbevölkerung tragen sie selbstverständlich von Generation zu Generation.

II

Gegenwärtig wird überall behauptet, unser Leben verlangsame sich derzeit. Es nimmt die Form des rallentando an. Und natürlich stimmt das, wir erleben alle ja eine geradezu unheimliche Entschleunigung der Wirtschaft, des kulturellen Lebens, sogar des familiären Daseins.
Allerdings gibt es zugleich ganz gegen unsere Alltagswahrnehmung in einigen Bereichen atemberaubende Beschleunigungen:

Wir erleben eine nie gesehene Geldmengenausweitung durch die grossen National- und Zentralbanken und wir sehen Hilfsprogramme für die Wirtschaft, die alles übertreffen, was bisher da war – die nun gesprochenen Gelder übertreffen auch die Summen, die man 2007 und 2008 in der Finanzkrise freigesetzt hat. Das alles ist in wenigen Tagen beschlossen und kommuniziert worden.

Wir erleben im Moment eine Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit, die vor zwei oder drei Wochen noch völlig undenkbar war. Sie ist vernünftig, aber es ist doch bemerkenswert, dass der Staat derart schnell und konsequent durchgreift.

 

Der Bundesrat wertet unsere Handydaten aus, um zu sehen, wie viele Menschen sich wohin bewegen. Zwar tut er das anonymisiert und mit einer Verzögerung von 24h. Alain Berset denkt allerdings laut darüber nach, ob man die Datenanalyse nicht auch feiner aufschlüsseln könnte. Zwar solle das, wenn es so kommt, auf freiwilliger Basis geschehen, aber es sind doch erstaunliche Gedanken, die da ausgesprochen werden. Vor drei Wochen noch hätte ein solcher Satz das Ende jeder politischen Karriere bedeutet.

III

Yuval Noah Harari ist ein scharfsinniger israelischer Historiker, der vor ein paar Tagen einen Artikel zur gegenwärtigen Situation zunächst in der Financial Times, dann in der NZZ veröffentlicht hat. Auch er beobachtet diese ungeheure Beschleunigung. Der Staat trifft im Moment in wenigen Tagen Entscheidungen, für die er normalerweise mehrere Jahre an politischer Diskussion brauchen würde oder die er unter Normalbedingungen gar nicht durchsetzen könnte.

Und Harari hat ein feines Gespür dafür, dass dabei die alte Idee der Freiheit droht unter die Räder zu kommen. Das muss gar nicht bewusst angestrebt werden. Aber natürlich ist es bei der Bekämpfung des Virus attraktiv, unsere Handydaten auszuwerten. Natürlich wäre es aus medizinischer Sicht attraktiv, noch mehr über unseren Zustand zu wissen. In China sind die Leute per App dazu gezwungen worden, ihre Körpertemperatur zu messen und ihren Gesundheitszustand zu melden - täglich. Es ist dort gelungen, das Virus erfolgreich einzudämmen, wohl auch wegen solcher Massnahmen. Überhaupt macht die Auswertung von Handydaten in China eine Überwachung möglich, die sich kein Geheimdienst dieser Welt vor 10 Jahren noch hat erträumen lassen.

IV

Die Politik und der Staat stehen vor schwierigen Herausforderungen. Sie müssen schnell handeln, sie müssen auch Entscheide treffen, die ins Mark unseres neuzeitlichen Selbstverständnisses treffen: Sie müssen unsere Freiheit beschneiden.
Aber – und das ist die Crux – aller dieser Entscheide, indem sie das tun, rütteln sie zugleich an den Grundfesten der Freiheit unseres Daseins, die ihre Geburtsstunde in der Reformation haben.

V

Wenn diese Krise vorbei sein wird – und sie wird ganz gewiss eines Tages vorbei sein, dann wird es ganz entscheidend darauf ankommen, ob es dem Staat gelingen wird, einen Ausstieg aus der nun gewonnen Macht zu finden. Es ist ja eine Demonstration der Stärke, die er im Moment an den Tag legt. Zurecht, wie gesagt. Aber wie entwöhnt man sich von einem solchen Programm?
Es gibt ja keinen Zweifel daran, dass eine Versuchung darin liegt, einen Teil der jetzigen Massnahmen auf Dauer zu stellen. Das würde gewiss nicht mit böser Absicht geschehen, sondern sogar mit guten Vorsätzen: Wäre es nicht wünschenswert, Handydaten auf Dauer zu sammeln? Vielleicht auch Impfdaten? Vielleicht auch Blutdruckdaten von unseren Fitnessarmbändern und Smartwatches?

VI

Es ist spürbar, dass der Bundesrat und andere Regierungen im Westen sich der lauernden Gefahren bewusst sind. Und das ist auch notwendig. Denn der moderne und liberale Rechtstaat ist seinem Wesen nach ja eigentlich nichts anders als eine Institution, die die Freiheit des Einzelnen so gut und so weit wie möglich ermöglichen und sichern soll. Das ist seine Aufgabe, mehr soll er eigentlich nicht tun. Im Moment, so scheint es, muss er aber seinem eigenen Wesen zuwiderhandeln.

VII

Insofern leben wir wirklich in Ausnahmezeiten. Es gibt zwei Voraussetzungen dafür, dass wir in ein paar Monaten wieder ein normales Leben führen können:
Die erste ist medizinischer Natur: Wir müssen das Virus in den Griff kriegen. Sei es durch Medikamente, durch eine Impfung oder dadurch, dass es uns gelingt, seine Ausbreitung zu stoppen.
Die zweite Voraussetzung ist mentalitätsgeschichtlicher Natur: Wir müssen uns daran erinnern, dass wir Kinder der Reformationszeit sind und auch bleiben wollen!
Häufig wird behauptet, dass die Welt nach dieser Krise eine andere sein wird. Vielleicht stimmt das. Aber eines sollte doch bleiben wie es ist: Die Freiheit, die die Menschheit seit den Ereignissen des 16. Jahrhunderts zu lieben gelernt hat, sollte bei einer allfälligen Neuordnung nicht auf der Strecke bleiben. Das ist die grosse Herausforderung, die wir meistern müssen. Sonst ist es schwerlich vorstellbar, dass die Welt eine bessere sein wird.