Eine Gesellschaft in der Krise

I

Ich möchte Sie einladen, sich mit mir eine Szene vorzustellen, die vor zwei Wochen noch normal war, die es heute aber nicht mehr gibt:

Ich stelle mir also einen Mann vor, der in Zürich über den Paradeplatz läuft, um eine der dort gelegenen Bankfilialen aufzusuchen. Der Mann kommt gerade von seinem Anwalt, mit dem er einen Vertrag für den Kauf einer Ferienwohnung durchgegangen ist. Nachdem er bei der Bank war, wird er sich mit seiner Frau und seiner Tochter zum Mittagessen treffen.
Sodann wird die Familie noch einen Blick auf die Chagall-Fenster im Fraumünster werfen und schliesslich ein Tram besteigen um nach Hause zu fahren.

In weniger als zwei Stunden wird der Mann, den ich vor Augen habe, mindestens fünf Rollen inne gehabt haben: Zum einen war er beim Gespräch mit dem Anwalt Teilnehmer des Rechtssystems, dann beim Abheben von Bargeld in der Bank Teilnehmer des Finanzsystems, dann war er Familienmensch in einem Restaurant, danach Kirchen- und Kunstliebhaber im Fraumünster und schliesslich Teilnehmer am öffentlichen Verkehr.

II

Jede und jeder von uns könnte dieser Mann oder eine Frau mit ähnlichem Verhalten gewesen sein – vor zwei Wochen noch. Im Normalfall nehmen wir durch den Tag hindurch ständig neue Rollen an und verhalten uns – je nach Kontext, in dem wir uns befinden – jeweils ganz anders. Mit seinem Bankberater spricht man anders als mit seiner Tochter. Als Teilnehmer am Finanzsystem ist man ein anderer als als Familienvater.

Das liegt vor allem daran, dass unsere Gesellschaft eine ganze Reihe von Systemen ausgebildet hat, die alle ihre eigenen Regeln haben: Neben dem Wirtschaftssystem gibt es den Staat, die Politik, das Recht, die Schulen und die Wissenschaft, das Gesundheitssystem, die Familien und auch die Religion als eigenes System.

Jedes dieser Systeme trägt seinen Teil dazu bei, dass die Gesellschaft insgesamt funktioniert. Und jedes verlangt den Einzelnen ab, sich nach den Regeln des Systems zu verhalten. Wir alle haben deshalb an einem normalen Tag viele verschiedene Rollen inne – ganz abhängig davon, in welchem System wir uns gerade aufhalten.

III

Unsere Gesellschaft ist im Moment in der Krise. Das Leben ist gelähmt, und man kann ganz deutlich spüren, dass dieses Mal etwas anders ist als in den Krisen zuvor. In der Finanzkrise zum Beispiel waren vor allem die Wirtschaft und die Finanzinstitute betroffen. Alle anderen Systeme haben normal weitergearbeitet: Die Kirche, die Anwälte, die Schulen, die Politik und der Staat – das alles hat ganz normal funktioniert. Deshalb blieb unser Leben damals weitgehend wie gewohnt.

Nun aber ist es anders: Das Virus verlangsamt nicht bloss ein System, sondern alle gleichzeitig. Vieles steht sogar vollkommen still. Es könnte sein, dass es noch schlimmer kommt – etwa dann, wenn es auch bei uns zu Ausgangssperren kommen sollte. Und es könnte sein, dass dieser Zustand auch länger andauert.

IV

In Italien gibt es rührende Szenen von Menschen, die eine neue Form von Gemeinschaft erfinden: Sie treffen sich zu bestimmter Stunde auf dem Balkon und musizieren miteinander. In unseren Gemeinden gibt es Jugendliche, die sich als helfende Hand anbieten für Menschen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Es ist eine grosse Solidarität zu spüren bei allen Gesprächen, die die Menschen miteinander führen. Man bietet sich Hilfe an und wünscht sich Gesundheit.
Bei allem Ärger über übermässige Hamsterkäufe und bei allem Schmunzeln über den Kampf um die letzte Rolle Toilettenpapier, ist doch dies auch zu spüren: Die Menschen machen sich nicht nur Sorgen und sich selbst, sondern schauen auch zu den Anderen. Menschen im Gesundheitssystem und in vielen anderen Berufen sind bereit, sich über die Massen einzusetzen für Andere, die ihnen anvertraut sind.

V

An alledem lässt sich ablesen, dass es ein Band gibt, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Es sind die Werte unserer Kultur, die nun besonders deutlich zum Vorschein kommen: Achtung des Anderen, Solidarität und eine Kultur der Nächstenliebe auch, die sich ganz unterschiedlich äussern kann. Das alles ist nun sehr hilfreich.

Ich glaube übrigens auch, dass es diese Werte sind, die unsere Gesellschaft in den normalen Zeiten zusammenhalten. Wir bemerken es dann bloss nicht so genau, weil wir durch die Geschäfte eingenommen sind, denen wir gerade nachgehen. Aber unsere Gesellschaft ist eigentlich eine grosse Gemeinschaft, in der sich alle den beschriebenen Werten verpflichtet fühlen. Die Kirche übrigens ist einer der ganz grossen Träger dieser Werte. Sie ist vielleicht überhaupt die einzige Institution, die diese Werte durch die Zeiten trägt – durch die Jahrhunderte und Jahrzehnte.

Diese Werte der unbedingten Achtung des Nächsten und der Solidarität und der Hilfsbereitschaft spielen über alles Systemgrenzen hinweg eine Rolle, und sie sind das Fundament, auf dem alle Bereiche, in denen wir uns sonst bewegen, fussen: die Wirtschaft, die Politik, der Staat, die Schule und die Wissenschaft, der Rechtsbereich, auch die Kirche.

Ja, dieses Wertefundament spielt überall eine nicht wegzudenkende Rolle, und es ist zugleich das Band, das alle Lebensbereiche unserer Gesellschaft zusammenhält und das uns als Gemeinschaft ausmacht.
Das gilt in den normalen Zeiten, und es gilt auch in der Krise.